India – Odyssee von Süd nach Nord Teil I

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“What is your country?” Mit diesem Satz beginnen intensive Gespräche in Indien. Und damit ist es auch schon wieder vorbei. Man ist enttäuscht. Aber die Dauerbeschallung von “What‘s your national flower? What‘s your national animal?” geht einem doch nach kurzer Zeit irgendwie auf den Wecker. I-Tüpfel solcher Konversationen: “How do you like my India?” oder “Do you like our president?” Wäre es nun unhöflich zu sagen, wir sind uns nicht mehr wirklich sicher, was wir an Indien so schön fanden und so lächeln wir eher müde und grübeln, welche dieser erzwungenen Antworten wir lieber vermeiden würden.

Auf unserer 2. bzw. 3. Reise durch dieses unendliche Regionen- und Sprachpuzzle zeigt Indien noch einmal ein ganz anderes, unerwartetes Gesicht. Hatten wir noch die vielen wirklich armen Menschen bewundert, denen trotz ihrer teils schwierigen Situation stets ein Lächeln auf den Lippen liegt, finden wir diese wunderbare Besonderheit jetzt kaum noch. Müssen wir genauer hinsehen oder haben wir früher rosa-rot gedacht? In Chennai empfangen uns drängelnde Ellbogenstoßer am Flughafen, in den Straßen, Taxifahrer, die zum Handeln zu raffgierig sind und Menschen, die uns den Himmel auf Erden versprechen. Dass unsere Rucksäcke vor dem Kofferband offensichtlich geöffnet und durchwühlt worden sind, macht die ganze Sache nicht besser. Es fehlen lediglich 70€, die wir nach Abreise aus Deutschland als einzigen Wertgegenstand in unseren großen Rucksäcken mit uns getragen haben. Ärgerlich und auch beschämend. Das Pech scheint uns im letzten Zuge der Reise am Hintern zu kleben. Wir berappeln uns nach solchen doofen Situationen immer wieder und versuchen die Einmaligkeit und Schönheit der Orte und der Menschen wiederzuentdecken und so kehren wir an einen unserer Lieblingsorte an der südlichen Ostküste zurück, Mahabalipuram. Erstaunlich, dass dieser kleine Ort, wenn auch schon sehr auf den Tourismus ausgelegt, seinen Zauber nicht verliert. Der Park um den kuriosen, freischwebenden Butterball-Stein lässt uns innerlich wieder etwas relaxen und wir genießen die gigantische Aussicht vom kleinen Tempelberg. Hier oben weht der kühlende Wind von Ozean und wir entfliehen nach Tagen erstmals der heftigen Hitze. Ein wunderschöner Platz zum Verweilen und Seele baumeln lassen. Der gewaltige Tsunami hat auch an Indiens Ostküste seine Spuren hinterlassen. Der einst breite Strandabschnitt, der vor der Stadt lag, ist kaum noch passierbar. Die Wellen schlagen nun bis an die bunten, heruntergekommenen Schuppen und leerstehenden Strandbars. Drei Tage wandeln wir auf bekannten Wegen und lassen alte Erinnerungen wieder wach werden.

Einen weiteren, kostspieligen Flug in den verheißungsvollen Norden meiden wir und entschließen uns die kurze Flugstrecke von 5 Stunden durch eine abenteuerliche 7-tägige Bus- und Bahnreise zu ersetzen. Der Beginn soll reibungslos von Statten gehen und so verlassen wir das beschauliche Mahabalipuram per Local-Bus mit Kurs auf den Bahnhof von Chennai. Mit einem alten Freund treffen wir uns kurz vor Abreise und erzählen von unseren Abenteuern. Dass man sich hier im stickigen, vor Dreck strotzenden Bahnhof trifft, scheint nicht weiter ungewöhnlich. Der Zug soll pünktlich aus dem Bahnhof auslaufen, nur doof, dass unsere Plätze doppelt gebucht worden sind und sich in dem winzigen Abteil eine wütende Diskussion unter Einheimischen entfaltet. Gut, dass wir Dinesh noch an unserer Seite haben, so warte ich mit unseren Habseligkeiten auf der blauen, klebrigen Gummibank des Abteils und versuche mich so unsichtbar wie es nur geht zu machen. Die Einheimischen positionieren demonstrativ ihre Koffer auf unseren Sitzbänken und beanspruchen die Plätze. Reispakete werden bereits auf Zeitungspapier ausgebreitet und mit verschiedensten Masalas beträufelt. Man beglückwünscht sich offensichtlich schon zu unseren Schlafbänken. Die Atmosphäre ist angespannt und die Aggression der beiden Männer spürbar, als Dennis mit einem Anzugträger und Dinesh endlich zurückkommt. Die Zeit bis zur Abfahrt läuft gegen uns, als ein zweiter wichtiger Mensch mit einem riesigen Schlüsselbund das Abteil betritt und uns zielstrebig von der Zweiten in die Erste Klasse befördert. Dort steht der nächste Streit in den Startlöchern. Unser Upgrade betrifft selbstverständlich andere Reisende, deren Ticket mit unserer Anwesenheit nun keine Gültigkeit mehr zu haben scheint. Solche Komplikationen sind in Indien keine Seltenheit und es heißt stets, Ruhe bewahren, die männlichen Einheimischen ihre Konflikte austragen lassen und auf den einzig wichtigen Menschen warten, der solche Situationen meist klären wird – in diesem Falle der Schlüsselmann. Wir fahren 36 Stunden mit dem Zug von Chennai bis nach Delhi und sind wirklich erleichtert, als niemand mehr unsere Schlafplätze für sich in Anspruch nehmen will. Wie hält mich sich über so einen langen Zeitraum über Wasser? Wir plaudern über Reiseabenteuer, träumen uns an etwas gemütlichere Orte, greifen hier und da vom Coffe-Tea-Walla einen Pappbecher mit heißen Getränken ab oder verputzen ein Tablet voll mit Roti und Masalas. Allzu gerne besuchen uns fremde Reisende im Abteil und das kleine Fragespiel Where are you from und so geht von vorne los. Inder lieben es, Weltpolitik zu von links auf rechts zu drehen und sind genauestens informiert. Bezieht man keine radikale Stellung verlieren sie recht schnell die Geduld und das Gespräch dreht sich im Kreis. Feierlich wird noch das Visitenkärtchen überreicht und der Inder hat sein Tagesgeschäft erledigt.

Nach gefühlten Ewigkeiten erreichen wir Delhi und entfliehen dem Chaos auf der Straße in ein kleines Hotel. Im Hinterkopf spuken auch schon die beiden Zugfahrten des nächsten Tages, die uns in die Berge bei Shimla bringen werden. Delhi erweist sich als reinste Zumutung. Tatsächlich hat die Stadt aber auch wirklich keinerlei Charme, auch wenn Reiseführer es uns eindringlich weismachen wollen. Wir sind entsetzt von heruntergekommenen Kolonialbauten, mit denen man sich rühmt und waten einmal mehr durch plastikgespickte Ölpfützen in den Straßen Old Delhis. Preise sind vollkommen überteuert und wir sind heilfroh, dass wir uns lediglich eine Nacht aufhalten werden. Selbst einen Wäscheservice oder eine Coin-Laundry können wir in der Reisemetropole nicht auftun. Hotels verbieten Handwäsche – erfolgreich ignoriert.

Pünktlich um 4:30Uhr sitzen wir im Zug nach Kalka, wo wir in den Toytrain, eine lustig vor sich hinholpernde Schmalspurbahn, die sich durch die gewaltigen Berge bis auf 3000 Meter schlängeln soll, umsteigen. Die Außenbezirke Delhis, die am Fenster vorbeiziehen bieten ein Bild des Schreckens. Klasse I Slums setzt sich zusammen aus wild zusammengewürfelten Blechhütten, auf deren Dächern Müll und Abfall zum Beschweren der Wellbleche drapiert wird. Rauch steigt zwischen den Buden auf und der Geruch von verkohltem Plastik liegt in der Luft. Familien lungern trostlos im Staub und teilen sich ihre Mahlzeiten. Dass ich hier von Slums der Klasse II spreche, tue ich lediglich, um klar zu machen, dass es noch viel dramatischere Eindrücke gibt. Wellblech weicht nun durchlöcherten Plastikbahnen und -tüten und man kann sich sicher sein, dass diese Menschen im Monsun klitschnass in ihren dreckigen Unterschlüpfen hocken. Kindermünder werden mit Pfützenwasser und schmierigen Lappen gereinigt. Männer hocken neben den Gleisen und entledigen sich. Der Zug rollt in Seelenfrieden vorbei und kaum einer der Reisenden misst der Armut, die eine Armlänge entfernt scheint auch nur einen Funken Mitleid bei.

Die Welt wird grüner und instinktiv atmet man über die vergangenen Bilder hinweg. Die Hitze nimmt spürbar ab. Fenster werden geschlossen und das auserwählte Publikum des Spielzeugzuges genießt die unglaubliche Weite der Berglandschaft. Wir stoppen an winzigen Bahnsteigen und kaufen Snacks von Straßenverkäufern. Affen genießen ihre Mittagspause auf den Gleisen und warten auf die ein oder andere Banane. Ein Lauter Pfiff und die wenigen Passagiere wissen, dass sie sich besser beeilen und auf den Zug aufspringen, der sich bereits langsam in Bewegung setzt. Aufgeregt wie Erstklässler qietschen und pfeifen die Einheimischen bei jeder Passage durch einen der vielen Tunnel. Das Lachen der Westler mischt sich gern mit dieser Eigenheit und irgendwie gehört man dann zusammen. Sechs Stunden klettert die Bahn mühsam die 2000 Höhenmeter, als wir endlich im Endbahnhof von Shimla einfahren. Was nun kommt, ist leider nichts im Vergleich, zu den oben genannten Eindrücken.